Gestern schrieb mir ein englischer Facebookfreund ‚und ich dachte, bei mir wäre es schlimm.‘ Es ging
um eine Situation im Bezug auf unseren Sohn.
Ich musste schmunzeln, denn ich werte nicht. Vor allem nicht bei Behinderungen.
Sein Sohn hat die Trisomie 21, was im Gegensatz zu unserem Autismus erheblich schlimmer ist. Wirklich?
Heute Morgen entbrannte hier am Küchentisch eine sehr interessante Diskussion über das Thema ‚was ist eine Behinderung‘ weitergehend auf ‚ist Autismus eine Behinderung‘ worauf folgte ‚dieses funktionieren müssen‘ bis hin zu ‚die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen‘. Ich muss gerade wieder schmunzeln, denn solche Gespräche führen wir ausschließlich morgens in aller Herrgottsfrühe.
Eine Behinderung ist qua Definition:
- nach dem Sozialgesetzbuch: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist.”
- Wikipedia: „Behinderung bezeichnet eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe beziehungsweise Teilnahme einer Person, verursacht durch das Zusammenspiel ungünstiger Umweltfaktoren (Barrieren) und solcher Eigenschaften der behinderten Person, die die Überwindung der Barrieren erschweren oder unmöglich machen. Behindernd wirken in der Umwelt des behinderten Menschen sowohl Alltagsgegenstände und Einrichtungen (physikalische Faktoren) als auch die Einstellung anderer Menschen (soziale Faktoren).“
> der Mensch an sich ‚funktioniert‘ nicht richtig. Er/Sie passt nicht in diese Gesellschaft, weil er/sie nicht regelrecht angepasst ist. Das wäre die Schlussfolgerung hieraus.
Kann man Behinderungen werten? Ich meine damit, als schlimmer und weniger schlimm werten?
Es ist doch egal, ob jemand behindert ist, egal in welcher Ausprägung, behindert ist behindert und bedeutet Ausgrenzung, zwar nicht zwangsläufig, aber in sehr vielen Fällen.
Was meinen englischen Facebookfreund und seinen Sohn betrifft, ging mir durch den Kopf: Dein Sohn hat den Vorteil, dass man ihm seine Behinderung ansieht. Die Gesellschaft ist glücklicher Weise nicht mehr so stringent wie vor 40 Jahren und akzeptiert den Anblick dieser Menschen, sie sind integriert, sie werden soweit möglich gefördert, man nimmt Rücksicht.
Unser Sohn hat den Vorteil, dass man ihm seine Behinderung nicht ansieht. Er wird behandelt wie jeder andere auch, die Anforderungen sind so wie bei jedem anderen auch, keiner nimmt Rücksicht, warum auch? Er sieht doch so normal aus…
Kann man wirklich von Vorteil reden? Ich denke schon, aber es ist wie so vieles ein zweischneidiges Schwert.
Eine ‚Behinderung‘, ich sage lieber Beeinträchtigung, ist in jedem Fall etwas schlimmes, denn sie grenzt aus und beeinträchtigt oftmals die freie Entfaltung von Wissen und Können, da durch die äußeren Anforderungen extrem viel blockiert wird, bis hin zur Totalverweigerung.
Durch Ausgrenzung entstehen neue ‚Behinderungen‘ wie Ängste, Depressionen, Sozialphobien, wasweißich.
Was wirklich schlimm ist, meiner Auffassung nach, dass beeinträchtigte Menschen oftmals nicht die Möglichkeit haben, ihr Leben selbst bestimmt zu leben. Das Bewusstsein, dass der Sohn meines Freundes niemals eine eigene Wohnung beziehen wird, Familie haben kann, Arbeit, die sein Leben finanziert = sein eigenes Leben finanzieren und bewältigen wird… Das macht traurig.
Und wie sieht es bei einem Autisten aus? Manchmal eben genau so. Oftmals ‚funktionieren Autisten bis hin zum wortwörtlichen ‚Umfallen‘, ‚Umkippen‘, ‚Zusammenbruch‘. Sie ‚funktionieren‘, weil sie MÜSSEN, weil man es von ihnen erwartet, niemand nimmt Rücksicht.
Und dann gibt es diese so grausamen Therapieformen, die dieses ‚funktionieren‘ möglich machen sollen. Nur um welchen Preis? Dass der Mensch an sich gebrochen wird, kleinste Kinder schon. Gezwungen wird, im Prinzip mit einer Foltermethode (egal ob MMS oder ABA oder welche Therapie sich noch ausgedacht wird) sich selbst zu verleugnen und von eckig in rund gepresst wird (sinnbildlich).
Also. Was ist schlimm? Schlimm ist, wenn man aus dem gesellschaftlichen Raster fällt. Wenn man als dumm, blöd und ‚Du bist ja behindert (Schimpfwort)‘ ‚ausgezeichnet‘ wird, weil man einfach nicht regelrecht sein kann, sich anders bewegt, evtl. anders spricht.
Mein Mann sagte eben etwas sehr wichtiges:
So lange diese Gesellschaft jeden einzelnen an seiner Produktivität misst, an seiner wirtschaftlichen Wichtigkeit, wird es mit dieser Gesellschaft ‚weiter den Bach runter gehen‘ (RW). Es muss immer mehr Geld her, der Druck wird immer größer, die Anforderungen steigen in den Himmel, immer mehr-mehr-mehr.
Dies fängt doch schon im Kindergarten an, geht in der Grundschule weiter. Die Kinder haben keine Kindheit mehr, selbst die kleinsten schon nicht mehr.
Also, was ist schlimm?
Nicht Trisomie 21.
Nicht Autismus.
Nicht die Spastik.
Nicht die Amputation.
Diese Gesellschaft mit den Anforderungen bar jeden Verstandes, dieses egomane Sein und das Streben nach immer mehr, wovon man sowieso nicht das hat, was am wichtigsten ist:
Liebe, Rückhalt, Zufriedenheit, Lebensfreude.
Darüber dachte ich schon oft nach…ob es ein Vorteil ist unauffällig zu sein…hmm eben wegen der angestrengten Anpassung und der Folgen wohl eher nicht. Ich musste mir schon von der Autismusbeauftragten anhören , nach den Motto ach stellen sie sich nicht so an es gibt viel auffälligere Autisten…Ja bestimmt, aber es heißt ja nicht mein Sohn hat weniger Probleme. Er verbirgt sie. Daraus resultierend wird auch dementsprechend mehr verlangt da das Kind sehr wohl kann. Schnell wird es als Faulheit etc. eingestuft…achja und nicht zu vergessen , später ist es die böse Pubertät!
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Stimmt!
Oder geh mal weg von den Autisten: wie viele Kinder haben Wahrnehmungsstörungen, Sprachprobleme, motorische Probleme. Sie werden therapiert bis zum sprichwörtlichen Umfallen. Mein ältester Sohn wurde gut 4-5 Jahre therapiert mit Psychomotorik und Mototherapie, meine Tochter war lange Zeit genötigt Ergotherapie und Logopädie über sich ergehen zu lassen. Alles nur aus dem Grund ‚wegtherapieren, koste es was es wolle‘. Viele Dinge kann man einfach nicht wegtherapieren, so zum Beispiel die taktile Wahrnehmungsproblematik meines ältesten Sohnes, die Kinder lernen zu kompensieren, zu egalisieren.
Und nun wieder der Autismus: hier ‚funktioniert‘ dies nur bedingt, ich vergleiche das mit Vokabeln lernen: man paukt und paukt und irgendwann hat man gelernt: es ist kalt, ich muss diese bestimmte Jacke anziehen, auch wenn ich nicht spürbar friere (als Beispiel). Es bleibt also irgendetwas haften, nur, was dieses ständige erinnern müssen, auf diese Schlüsselreize reagieren müssen, egal ob man gerade in der Lage ist oder nicht, DAS ist das anstrengende. Und ich frage mich ernsthaft ‚wo bleibt da die Lebensqualität?‘.
Manchmal denke ich, lieber eine sichtbare Beeinträchtigung, als eine unsichtbare. Aber dann denke ich wieder ‚Quatsch, sei dankbar mit dem wie es ist, es hätte viel viel schlimmer kommen können‘. Außerdem, und das habe ich vorgestern noch erlebt und ich war regelrecht wütend: manchmal wird eine unsichtbare Behinderung dann doch sichtbar, die Ausgrenzung die dann passiert, ist umso schlimmer (es ging um Außenwirkung unseres Sohnes und die Reaktion der Umwelt, es war heftig!).
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Ja genau. Mein Sohn wurde auch Jahre therapiert da er ja als „nur“ Entwicklungsverzögert galt. Das war Hölle, 3 Therapien die Woche
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oh.mein.gott…
nun, unserer wird zur zeit auch sehr ‚hart ran genommen‘: Montags bei seinem ‚alten‘ Therapeuten, Donnerstag Probatorik bei der ’neuen‘ Therapeutin, zwischendrin dann noch ich mit meinen Forderungen. Das ist verdammt schwer und kaum auszuhalten, aber es ist semi-freiwillig und es bewegt sich etwas. Für mich als Autistin ist es kaum mehr zu schaffen, aber ich muss dadurch, manchmal habe ich dann noch selbst Termine und da bleibt kaum noch ‚Luft‘. Aber: es hat einen Sinn, da muss ich mich selber zurückstellen. Und es ist eben auch nicht dieses krampfhafte Therapieren, dass das Kind endlich lernt sich anzupassen, sich zu assimilieren, zu funktionieren.
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Für mich ist die schlimmste Behinderung, nicht ernst genommen zu werden. Und das kann man eigentlich auf alle Andersartigkeiten, ob man diese nun Beeinträchtigung nennen mag, oder nicht, übertragen. Entweder, man wird unter- oder überschätzt, ungeachtet dessen, was man zu zeigen imstande ist. Es schaut doch keiner mehr richtig hin.
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Ich stimme Dir unumwunden zu!
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Autismus, Spastik, Amputation können auch schlimm (sehr belastend) sein. Dass ein Mensch nur an seiner wirtschaftlichen Verwertbarkeit gemessen wird allerdings ist grausam. Un-menschlich, möchte ich sagen.
In einem Land, einer Gesellschaft, in der Banken gerettet werden, aber nicht Menschen, stimmt etwas nicht.
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Natürlich! Es ist egal, ob jemand Autist ist, amputiert ist, Epilepsie hat, Spastiken, oder ’nur‘ ein Reizdarm-Syndrom! Das ist für jeden schlimm, richtig schlimm, oder eben relativ. Und ich denke, dass ich sehr genau weiß, wie ’schlimm‘ das ist, mit meiner Fibromyalgie, Arthritis und Osteochondrose… Was ich damit meinte ist: die Ausgrenzung ist schlimmer, eventuell, weil einem dann noch bewusster wird, was alles ‚anders‘ läuft. Kann das gerade schlecht erklären. Und wie Sinnesstille schrieb: dieses nicht ernst genommen werden, was für mich auch eine Ausgrenzung ist. Egal was man hat, das was die Gesellschaft daraus macht, nämlich ‚äh, wieder ein Sozialschmarotzer‘ oder ‚die/der ist ja krank, die ist nichts wert‘ oder ‚die/der eingebildete Kranke..‘, DAS ist schlimm.
Es geht nicht nur um die Banken. Alles das, was richtig Geld hat, wird vom Geld gerettet. Ein Mensch wird auch vom Geld gerettet = wenn jemand ‚reich‘ ist, hat er ganz andere therapeutische und medizinische Möglichkeiten, als der 08-15 Bürger, der dem Goodwill der Krankenkassen unterworfen ist. Womit ich nicht sagen will, dass unser Gesundheitssystem schlecht ist, aber es könnte besser sein. Und gute Beispiele gibt es zu Hauf, sh. die Niederlande und Skandinavien… aber ich fange an zu schwafeln.
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Ja. Da hast du recht.
Und Ja was Sinnesstille schrieb, mit dem nicht ernst genommen werden – das ist für sich allein genommen schon sehr schlimm. Und macht das, womit man eh schon kämpft, noch unerträglicher (oder erst so richtig unerträglich). Ein entscheidender Faktor dabei ist auch, denke ich, dass dadurch oft Zugang zu etwas, was man braucht, behindert oder erschwert wird (oder ganz unmöglich). Sei es „dazugehören“ in irgendeiner Weise, Achtung und Menschenwürde (braucht jeder Mensch), die *richtige* Hilfestellung oder Therapie, ein Nachteilsausgleich, oder ein Hilfsmittel.
Wobei ich zur Zeit auch denke, dass es dann, wenn ich die Hilfe / die Hilfsmittel, die ich brauche, habe bzw. bekommen kann, oder kompensieren kann, (und es nicht durch die Sichtweise anderer gefährdet wird), es mir (relativ gesehen) egaler sein kann wie ernst die Gesellschaft mein „Grundproblem“ nimmt. Vielleicht ein dummes Beispiel: Solange ich meine Brille habe (ganz und in richtiger Stärke angepasst), kann es mir relativ egal sein, ob Fehlsichtigkeit als Behinderung angesehen wird oder nicht, ob das Problem ernstgenommen wird (& ich mit dem Problem …); wenn sie kaputt geht, ist es für mich ziemlich schlimm, dass Brillen grundsätzlich als „Modeaccessoir“ und „Privatvergnügen“ angesehen werden. (Als ich noch mit Augenzusammenkneifen und Raten was an der Tafel steht kompensieren konnte, fand ich es auch noch nicht sooo schlimm. Naja die Kopfschmerzen schon doof.)
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Wie von Dir gewohnt: Du bringst es auf den Punkt. Das Beispiel mit der Brille ist hervorragend und zeigt, dass man gar nicht so weit mit seinen Überlegungen schweifen muss! Ich wäre ohne meine Lesebrille blind wie ein Maulwurf und könnte NICHTS machen (ich arbeite extrem viel mit meinen Händen, abgesehen vom Schreiben). Aber selbst mit diesem Beispiel, das so harmlos und weit-verbreitet ist: ‚Brillenschlangen‘ hemmt so viele Kinder und Jugendliche schon, ein Hilfsmittel zu nutzen.
Mir ist es grundsätzlich auch egal, was andere von mir selbst denken, nur wenn es an die Ausgrenzung von mir nahe-stehenden geht, egal ob meine Kinder oder Freunde, ach, das stimmt so auch nicht: ich reagiere auf jegliche Ausgrenzung. Selbst wenn ich auf der Straße mitbekomme, wenn ich es denn überhaupt mitbekomme, dass da jemand angepöbelt wird, reagiere ich, denn auch das ist für mich schon eine Behinderung.
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