Rohe Eier

Soziale Interaktionen sind für mich Pein pur.
Zum einen verstehe ich vieles nicht, wie dieses ‚warum sagt man SOWAS?‘, ‚warum guckt diese Person SO?‘, etc pp.
Die Frage ‚wie verhalte ich mich JETZT am besten?‘ bestimmt mein ganzes Leben.

Ja, ich kann vieles inzwischen intuitiv erfassen, weil ich Zeit meines Lebens beobachtet habe, bei meinem jetzigen Ehemann die Fragen die ich hatte beantwortet bekommen habe, weil ich viel gelesen habe um mir Dinge zu erklären, auch mein früherer Therapeut hat für mich sehr viele Interaktionen übersetzt. Dennoch.

In letzter Zeit beobachte ich allerdings, dass ich extrem dünnhäutig geworden bin, dass ich selbst bei engsten Freunden ungehalten reagiere und nicht in der Lage bin Verständnis zu zeigen, wenn Dinge geäußert werden, die ich ‚verschubladisiert‘ habe in ‚jammern auf aller höchstem Niveau‘ und/oder ‚unnützes Zeug‘.

In letzter Zeit beobachte ich außerdem, dass mein Autismus extrem in den Vordergrund getreten ist.

Ich beobachte zudem, dass meine Hypersensibilität, so hilfreich ich sie mal betrachtet habe, zu einer echten Belastung geworden ist.

Das ‚Warum bloß?‘ beschäftigt mich nahezu durchgängig.

Ich nähere mich so langsam meiner persönlichen Zielgerade ‚Erkenntnis und Wissen‘, nur, was mir da bewusst wird gefällt mir nicht unbedingt.

Da war der Bruch mit meiner engsten Vertrauten außerhalb dieser Familie, der Bruch mit dem Verein für den ich längere Zeit gearbeitet habe. Wenngleich es eine richtige Entscheidung -für mich- war, ich den Zeitgewinn gefeiert habe, die Entspannung, weil ich mich nicht mehr mit Problemen befassen musste, die in die Schublade ’not my Circus, not my Monkeys‘ fallen – fehlte mir abrupt ein wichtiger Kontakt.

Dann die Verarbeitung meiner innerfamiliären Probleme, die ich nicht näher erläutern werde, nur so viel: Kontaktabbrüche von Familienmitgliedern sind schon für Nichtautisten kaum zu verstehen, noch zu verarbeiten, für mich sind sie ein Desaster. Auch wenn dies alles schon Jahre her ist, ich inzwischen behaupte gut damit umgehen zu können, weine ich innerlich bittere Tränen.

Corona … für mich im Bezug auf die mal herrschenden, mal über den Haufen geworfenen (RW) Restriktionen überhaupt kein Problem. Mein Leben hat sich nur insofern geändert, dass ich Maske trage und Desinfektionsmittel bei mir trage, ohnehin immer Abstand einhalte und dankbar sind, dass die meisten Menschen dies nun auch tun.

Corona ist insofern aber doch eine Belastung, weil mir wieder einmal die Dummheit der Menschheit bewusst wird. Das nicht in der Lage sein, sich auf simpelste Dinge einzulassen wie eben erwähnte Maske und Abstand. Es ärgert mich, wenn Leute rücksichtslos mit der Gesundheit anderer umgehen, wenngleich momentan zu hoffen bleibt, dass man sich selbst schützen kann wenn man sich impfen lässt, wenngleich dies auch keinen 100%igen Schutz bedeutet. Aber selbst DAS verstehen viel zu viele nicht. 80-85% sind nicht 100%!

Aber egal. Muss jeder selbst wissen. Sofern er-sie-es nicht andere gefährdet.

Hinzu kommt, dass ich nunmehr zwei Monate in einem (nicht privaten!) Testzentrum arbeite und in den durchschnittlich 4 Stunden/Tag Arbeit 80-100 ‚Kontakte‘ habe, sei es aktiv weil ich selbst teste, oder nicht mit persönlichem Kontakt, sondern verbal, weil ich an der Anmeldung sitze. Die Dinge die wir dort zu hören bekommen reichen von ‚Danke, dass Ihr das hier ermöglicht‘, ‚das haben Sie sehr gut gemacht‘, ‚Aua!‘, bis hin zu ‚bald bin ich voll geimpft und brauche das nicht mehr!‘ (*facepalm* und 80-85% sind nicht 100%!).

Wir leisten in jeder einzelnen Schicht Aufklärungsarbeit, wir versuchen zu vermitteln, dass Testen, so blöd und unangenehm (aber nicht schmerzhaft, weil nur in der vorderen Nase getestet wird) es ist, doch bitte weiter gemacht werden sollte.

Für mich bedeutet dies alles: ich rede innerhalb von zwei Schichten mehr als in einem ganz normalen Monat zuhause. Ich habe mehr ‚Kontakte‘ in diesen zwei Monaten gehabt, als in den ganzen letzten zwei Jahren (gesehen auf vor Corona).
Ich habe Kollegen, mit denen ich auskommen will, weil für mich etwas anderes unvorstellbar wäre. Ich mag sie. Alle. Es sind bemerkenswerte Menschen, vom Studenten bis hin zur ehrenamtlich arbeitenden Altenpflegerin.

Nur, genau hier beginnt mein Problem. Ich bemerke wie oben ausgeführt, dass mein Autismus immer aktiver ‚tickt‘: ich fange an im Dienst zu schaukeln, ich habe mich auch schon ertappt zu summen, das Verknoten der Finger ist beim Testen wenig sinnvoll, zwischen den Probanden aber ein ’nettes Instrument‘. Hinzu kommt, dass meine Hypersensibilität mich dazu verleitet gesprochene und gelesene Worte auf die ‚Goldwaage‘ (RW) zu legen.
= Jeden einzelnen Tag den ich meine Fluchtburg (Wohnung) verlasse, begebe ich mich auf ein riesiges Feld mit rohen Eiern (RW).

Eine Kollegin meinte letztens zu mir, ich wäre anstrengend. Bezogen war dies auf einen Chat den wir haben um u.a. Dienstpläne abzustimmen. Ich hatte einen ’schlechten‘ Tag, war begriffsstutzig und habe ‚genervt‘ in der Form, dass ich viel gefragt und angemerkt habe. Mir ist dies selbst aufgefallen, dass aber auch andere dies so gesehen haben, hat mich bestürzt.

Da bei mir vieles erst eine gewisse ‚Vorlaufzeit‘ braucht, ist mir dieses ‚Boah warst Du nervig‘ erst nach einer ganzen Woche klar geworden. Und ich winde mich…

Ich frage mich ernsthaft, ob ich nicht doch: nicht teamfähig bin.
Ich frage mich, ob ich nicht doch besser aufhören sollte.

Das alles, obwohl ich den Job gerne mache.
Das alles, obwohl ich meine Kollegen sehr mag und ich denke, dass ich diese eine Kollegin inzwischen ganz gut einschätzen kann, nämlich: dass sie es zum einen durchaus ernst gemeint hat, mich aber niemals hat verletzen wollen. Es war ganz sicher eine ‚flapsige‘ Bemerkung, mehr nicht.
Das alles, obwohl mir bewusst ist, wie gut mir im Grunde genommen diese ganzen Kontakte tun, auch wenn ich jedes einzelne Mal nach dem Dienst es gerade eben nach Hause schaffe und dann erstmal zu nichts mehr zu gebrauchen bin und meine notwendigen Erholungsphasen immer länger werden.
Das alles, obwohl ich eine Chefin habe, die sich qua ihres Berufs sicherlich auch in Anteilen mit Autismus auskennt, aber gerade deswegen so wertvoll ist, weil sie eine autistische Freundin hat.

Es gibt Zeiten, da hasse ich meinen Autismus. Wirklich.
Allerdings wird dies dadurch aufgewogen, dass ich ohne meinen Autismus nicht ich wäre, sondern wer anders.

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