Diagnostik bei Erwachsenen, oder: Diagnostik ist nicht nur bei Kindern wichtig!

Gestern habe ich einen guten Artikel gelesen, in dem es um die Gründe FÜR eine Autismusdiagnostik bei Kindern ging (ich hänge den Link wie gehabt unten an).

Die aufgezählten Gründe waren gut und ziemlich richtig. Nur: was ist mit undiagnostizierten Autisten, die das Kindesalter schon weit hinter sich gelassen haben? Bleiben diese im sprichwörtlichen Regen stehen und gibt es eventuell keine schlüssigen Gründe, warum Erwachsene sich diagnostizieren lassen sollten?

Doch!

Leider gibt es zu hauf Berichte im Bezug auf Kinder, leider deswegen, weil ein Erwachsener sich oftmals fragt ‚mhm, sollte ich dann doch nicht? Ergotherapie… ach nee. Und was sollte ich schon mit einer Integrationskraft?? Es gibt keinen Grund, warum ich mich dem aussetzen sollte! Schade.‘

Natürlich ist es wichtig, dass Eltern von Kindern im Spektrum wissen, dass sie keinesfalls alleine sind, zumal es in Deutschland leider kaum wirklich gute Stellen gibt, an die man sich wenden kann. Autismus wird scheinbar in den relevanten Studiengängen nicht derart viel Aufmerksamkeit geschenkt, dass ein Mediziner oder Therapeut wenigstens rudimentäre Kenntnisse hat, dass man sich nicht gleich sagen lassen muss: ‚ach hörn se doch auf! Was bilden Sie sich bloß ein??‘ sondern ein ‚gut dass Sie das sagen/fragen. Das sollten wir genauer überprüfen lassen!‘.

Bei Erwachsenen wird es dann noch prekärer, denn einen Diagnostiker für Erwachsene zu finden, da kann man wirklich besser eine Stecknadel in einen riesigen Heuhaufen schmeißen und anfangen zu suchen, nachts, mit Handschuhen an und zwei Schippen in den Händen, die auf den Rücken gebunden sind = unmöglich.
Zumindest fast. Es gibt derzeit leider nur ganz wenige Zentren, die ich einem Erwachsenen empfehlen könnte/würde, wo ein Versuch lohnenswert wäre: LWL Dortmund, UK Freiburg und MPI München. Nur, wer ist in der Lage, vor allem als VASS, oder ASSler -egal-, eine mittelprächtige Weltreise auf sich zu nehmen, wenn überhaupt nicht deutlich ist, warum das überhaupt Sinn macht??
(VASS = VerdachtsAutist, von Verdacht und Autismus Spektrum Störung)

Warum lohnt es sich, bzw. von lohnen kann nicht die Rede sein, es macht schlicht und ergreifend Sinn, denn:

  • dieses Zaudern und Zweifeln hört auf
  • dieses Gegrübel ‚was ist mit mir anders? bin ich psychisch krank?‘ hört auf
  • diese Trauer nicht dazuzugehören hört zwar nicht auf, aber es erklärt sich, warum dies alles so ist, wie es ist
  • bestenfalls ist es das viel beschriebene ‚AHA!‘ Erlebnis und man findet sich mit erlangter Diagnose, nur dauert dies mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre!! (trotzdem machen!!)
  • so blöd es sich liest: das Mobbing erklärt sich auf mal, sofern man es erleben musste. Es wird nicht egalisiert, aber man kann dann plötzlich erkennen: nicht ich bin das Problem, die anderen haben das Problem! Was eine Grundsätzlichkeit bei Mobbing ist, egal bei wem, aber bei einem Autisten noch einmal mit einer anderen Qualität.
  • diese überaus mächtige Erschöpfung nach sozialen ‚Events‘ und wenn es nur das notwendige Einkaufen ist erklärt sich: ein Zeichen für zuviel von zuviel
  • diese Interessen, die sonst kaum einer kennt oder teilt werden logisch
  • auch das zwischenmenschliche in einer Beziehung bekommt auf mal eine ganz andere Qualität. Wo man vorher als ‚zickig‘, ‚zaudernd‘, ‚hysterisch‘, etc. angesehen wurde, eröffnet sich aufmal ‚oops, sie/er kann gerade einfach nicht anders.‘
  • ggf bekommen Depressionen, wo ja immer irgendwie auch nach einem Trigger oder Auslöser gesucht wird, ebenfalls eine ganz andere ‚Berechtigung‘ und eine mögliche Therapie sollte dann dringend auch angepasst werden, denn nicht die Trigger sind das Problem, die veränderte Wahrnehmung sowie die Selbstzweifel durch den Autismus sind das Problem.
  • ggf. wird auch urplötzlich klar, warum man Medikamente nicht so verträgt wie das Gros der Mitmenschen!! = viele Autisten reagieren paradox oder überhaupt nicht auf Psychopharmaka, oder mit sämtlichen Nebenwirkungen, die man sich nicht vorstellen möchte!
  • durch die Diagnose können auch wir Erwachsenen Therapien bewilligt bekommen. Ergotherapie, Psychomotorik gehören in das Leistungsspektrum mit der Diagnose ASS (den Link hierzu hänge ich auch unten an), außerdem auch Autismustherapie, wobei ich bei Erwachsenen immer zu einer ’normalen‘ Psychotherapie raten würde. Wenn man Glück hat, findet man einen Therapeuten (zu dieser Suche, sh. oben: Heuhaufen), der mit seinen Patienten ‚wächst‘. Und ja! Es gibt diese Therapeuten!!
  • Durch die Diagnose besteht die berechtigte Hoffnung auf einen SBA, der nach Grad durchaus auch finanzielle Auswirkungen haben kann, aber auch arbeitsrechtliche Konsequenzen hat, denn alleine der Kündigungsschutz ist doch etwas anders gelagert.
  • theoretisch ist es auch möglich, dass man das persönliche Budget beantragt und sich somit Hilfe sucht, die z.Bsp. beim einkaufen hilft
  • und, es ist außerdem möglich, dass man eine Pflegestufe beantragt und auch bewilligt bekommt, wobei inzwischen sogar Pflegrad 0 (null) mit 125€ sachbezogener Leistung interessant wäre, denn auch damit kann man sich Hilfe suchen, die dann direkt mit der Pflegekasse abgerechnet wird.

Also doch wohl eine Fülle an Gründen, persönlichen, finanziellen, psychischen, die durchaus FÜR eine Strapaze wie der Diagnostik sprechen, oder?

Allerdings muss nicht jeder, der bei sich selbst meint ‚ich bin autistisch!‘ tatsächlich Autist sein, allerdings sollte diese Person sich bei anderen rückversichern, die sich im Spektrum auskennen. Über Selbsthilfegruppen, Foren, persönlichen Treffen. Allerdings reicht dies logischer Weise nicht aus, leider.

Vielen reicht dieses Wissen.

Nur sage ich: bis zu einem gewissen Grad/Alter wirst Du klar kommen, nur irgendwann schaffst Du es nicht mehr zu kompensieren und Du wirst zusammenbrechen! Das muss natürlich nicht zwangsläufig passieren, aber mit zunehmendem Alter, das muss man einfach auch mal zugeben und sagen, lässt die Kraft zu kompensieren nach, die Nerven können nicht mehr so wie mit 20 alles mögliche aushalten, man ist viel schneller erschöpft, versteht immer weniger, der Akku ist leer, fast. Außerdem, das war bei mir der Fall, verlagern sich die Interessen. Man ist irgendwann nicht mehr bereit alles mit sich machen zu lassen, man will einfach nur noch seine Ruhe, nicht mehr angeschrien und gemobbt werden, sondern friedlich und in Ruhe leben.

Hilfestellung bringen einige Tests, die man im Internet finden kann, so empfehle ich immer den RDOS Test mit seinen 150 Fragen.

Falls noch irgendwer andere Gründe hat: bitte fügt sie in den Kommentaren bei.

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Der Link zu dem Artikel, den ich eingangs erwähnt habe: Die 4 Auswirkungen

Persönliches Budget

Ein Link bezgl. der Heilmittelverordnung, mögliche Therapien für Autisten:
Heilmittelkatalog mit Diagnoseliste

Last but not least der RDOS Test, oder auch Aspie-Quiz genannt: RDOS
Ich empfehle unbedingt die Auswertung abzuspeichern!! Man hat 60 Minuten nach Erstellung Zeit, danach ist das Ergebnis futsch und man kann den ganzen ‚Spaß‘ nochmal machen.

 

 

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11 Gedanken zu “Diagnostik bei Erwachsenen, oder: Diagnostik ist nicht nur bei Kindern wichtig!”

  1. Ich für mich verzweifele jeden Tag mehr. Ich merke es im Privaten sowie im Netz. Die ständigen Veränderungen, der schnelle Wandel ( auch in den Menschen und deren Charaktere. Ungerechtigkeiten mit denen ich noch nie umgehen konnte, aber auch wenn man spürt es stimmt etwas nicht und man weiß nicht was. Und wenn man jemanden darauf anspricht, ständig eine Abfuhr bekommt und regelrecht angefaucht wird. Es wird immer schwerer aber die Kraft für eine Diagnostik fehlt. Vielleicht ist da auch Angst, wer weiß

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    1. Da ist mit Sicherheit auch Angst, denn man liest sehr viel von den Bemühungen endlich ankommen zu dürfen und doch nur noch eine weitere Diagnose bekommen zu haben, die nicht passt.
      Und dann noch das nicht unerhebliche Problem: wohin geht man?

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    2. Welcher Wandel und welche Veränderung der Menschen? Ich studiere Geschichte, und kann dazu nur sagen, dass die Gesellschaft stets gleichbleibt. Das beweisen alle historischen Zeugnisse der letzten 4 bis 5 Jahrtausende (!).

      Es handelt sich hierbei um eine Sinnestäuschung: Wer rote Autos schön / hässlich findet, wird plötzlich überall rote Autos sehen. Und so ist es auch mit der angeblichen „Veränderung“ der Gesellschaft oder menschlichen Charakterzügen.

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      1. eventuell, und das denke ich freundlich grinsend es ist also KEIN Angriff, solltest Du mal in unser Alter kommen, dann verstehst Du, dass sich Menschen durchaus wandeln und ändern und zwar so, dass man sie nicht mehr erkennt.

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    1. Danke Thomas.

      Ich weiß, dass man sich in Köln diagnostizieren kann. Vor einigen Jahren hätte ich diese Ambulanz auch durchaus empfohlen, nur häufen sich die Negativ-Schilderungen, weswegen ich Abstand genommen habe.
      Ich war natürlich nie dort, aber das was mir erzählt wurde schreckt ab.

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      1. Negativ-Berichte stammen überwiegend von Leuten, die ihre erhoffte Diagnose nicht erhalten haben, nachdem sie sich jahrelang als selbstdiagnostizierte Autisten ausgaben – darunter tausende Narzissten (viele Narzissten waren jedoch durchaus erfolgreich, sich eine Diagnose zu erschleichen).

        In Köln wird eben ganz genau nachgeschaut (dennoch kommt es zu Fehldiagnosen). Bei anderen Autismus-Ambulanzen kann man den „Ärzten“ erzählen, was man will.

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      2. Ich lehne dieses implizierte ‚dann waren es eben keine Autisten, sondern Narzissten‘ entschieden ab. Es gibt Unmengen an weiblichen Autisten, die sich noch nicht einmal mehr trauen sich der Diagnostik zu stellen, eben weil es schwierig ist einen weiblichen Autisten zu ‚erkennen‘ und einfach andere Diagnosen zu verpassen. Gerade bei älteren Frauen, so wie mir, da die Kompensation sehr eingeschliffen ist. Deswegen aber nicht weniger anstrengend!
        Ebenso gibt es ältere männliche Autisten, die stark konditioniert sind und sich hinter dieser Kompensation, Konditionierung, verstecken. Nicht weil sie das witzig oder sinnvoll finden, sondern weil es überlebenswichtig geworden ist!

        -auch dies: keine Kritik! Bitte bedenke Dein (von mir vermutetes junges) Alter, die aufgeklärte Zeit in der Du erwachsen wurdest, wahrscheinlich sogar recht früh diagnostiziert wurdest. Es gab auch schon vor 40-50-60-70 Jahren Autisten, in einer Zeit, in der es als Stigma galt zu einem Psychiater, Nervenarzt, zu gehen! Die Erziehung viel härter war als sie es heute ist und diese Menschen einfach nur die Zähne zusammengebissen haben. (meine persönliche Erfahrung)-

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    1. Ich bedanke mich bei Euch!!! Denn Euer Artikel trifft den Nerv (RW) einiger Erwachsener, die sich gerade in der Entscheidungsfindung befinden. Außerdem empfinde ich es als sehr wichtig allen aufzuzeigen, was für mögliche Konsequenzen etwas haben kann.

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